Zwischen Alexanderplatz und Schlossplatz

Um den Jahreswechsel 1999/2000 fotografierte ich für die Serie Kulisse. Ich lief tagelang durch Berlin. Ich versuchte meinen Ort, meine Mitte zu finden. Allerorten fanden Bauarbeiten statt. Der lähmende Stillstand, der die letzten Jahre der DDR geprägt hatte und die unterschiedlichen Versuche der Aneignung des öffentlichen Raums durch die Bewohner*innen wichen einer immer präsenter erscheinenden großflächigen Bautätigkeit. 

Zu meinem Blick auf die Stadt schrieb damals Stefan Melle:

Wer eine Stadt sehen will, muß aufmerksam für sie sein. Der muß auf ihren Fußboden schauen und dessen Wegmarken lesen können, der muß die Wände hinaufschauen und ihre Wundmale verstehen, der muß die geschlossenen und offenen Blickwinkel aus Gebäuden, Bäumen, Lichtmasten bemerken, die dieses Territorium in Räume teilen. Wer eine Stadt sehen will, muß auch wagen, ihren Menschen länger als schicklich ins Gesicht zu schauen. Letztlich aber muß, wer eine Stadt sehen will, sich auch darein fügen, daß er vieles nicht sehen wird. Zu komplex ist die Kombination von Lebendem und Dinglichem, aus der eine Stadt sich bildet. Zu vielfältig und vieldeutig sind darin die Menschen und die einzelnen Gegenstände ihrer Stadtmöblierung: Häuser, Verkehrsanlagen, Versorgungssysteme, Grünorte und anderes, mit der sie versuchen, sich die passende Hülle für ihr Leben zu schneidern, ihre Stadt „wohnlich“ einzurichten.

In seinem Text beklagt er auch die rückwärts Ausgerichtete Berliner Stadtplanung zu dieser Zeit. Der Wunsch nach dem Wiederaufbau des Schlosses verfestigte sich immer weiter.

Den vorläufigen Höhepunkt der Leichtfertigkeit, Gedanken- und Phantasielosigkeit aber stellen die immer ernsthafteren, inzwischen durch den Kanzler Schröder selbst unterstützten Überlegungen dar, das Berliner Schloß wieder zu errichten, obwohl von ihm nach Kriegszerstörung und Sprengung durch die Ulbricht-Regierung nicht einmal Ruinen mehr vorhanden sind. Als Reparatur des alten Stadtbildes und Rückbesinnung auf die Geschichte proklamiert, wäre dieser Wiederaufbau doch nichts weiter als eine unzulässige Reparatur eben dieser Geschichte, in der dann keine Kriegsfolgen und keine politischen Entscheidungen der DDR mehr sichtbar wären. Als Ausweis der neuen Berliner Republik erstünde anstatt eines neuen, wirklich das moderne Berlin repräsentierenden Gebäudes für Menschen die Museumskulisse einer alles andere als progressiven Zeit. Das moderne Berlin ist bisher eine Fiktion, die bei aller Inszenierung, Imagination, Beredsamkeit doch über den Rang eines Trugbildes kaum hinausgekommen ist. Man wirft den historischen Anker, um nicht ganz im Meer der eigenen Geistlosigkeit unterzugehen.

Beim Sichten meiner Negative für diesen Blogbeitrag stellte ich fest, dass die Farben sich schon sichtbar verändert haben. Das Material ist jetzt 20 Jahre alt. Lange bin ich davon ausgegangen, das die Haltbarkeit von fotografischem Material eine Frage für die Zukunft ist. Nun, aus meiner Perspektive, scheint sie angebrochen zu sein.